Sonntag, 20. September 2015

DR. FRANZ CRAMER: DEUTSCHLAND IN RÖMISCHER ZEIT

Sammlung Göschen, 633, mit 23 Abbildungen, Berlin und Leipzig 1920.
Dr. Cramer war Provinzialschulrat zu Münster und Mitglied der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde.
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HALTERN=ALISO?

Nach R: FRANZ CRAMER ist diese Frage angesichts der Bedeutung der Anlagen in Haltern zweitrangig. Die "Werke"-so Cramer-"waren jedenfalls eine gewisse Zeitlang ein Stützpunkt ersten Ranges für das römische Heer im rechtsrheinischen Germanien."
Oberstleutnant F. Schmidt fand in den 30iger Jahren des 19. Jh. römische Befestigungsanlagen auf dem Annaberg bei Haltern. Gefunden wurden auch Waffen, Bleikugeln und Münzen aus der augusteischen Zeit.
Im Norden und Süden des Kastells befinden sich unwirtliche Sanddünen, im Osten Sumpf. Das Kastell ist kein regelmäßiges Viereck, da es dem Gelände angepaßt wurde.
1900 wurde weiter nordöstlich ein großes Lager gefunden. Dieses Lager weist verschiedene Bauzeiten auf. Außerdem: ein Stapelplatz an der Lippe. 1901 wurde ein kleines Uferkastell nachgewiesen, das die Werftanlagen schützen sollte. Ausgrabungsleiter waren u.a.: C. Schuchhardt, F. Koepp, H. Dragendorff. Bei den Anlagen handelte es sich um "Holz-Erdwerke".

Die unregelmäßige Form des Kastells auf dem Annaberg (gewundene Linien, abgestumpfte Ecken) deutet auf die frühe Römerzeit in Germanien hin (älteste Halterner Anlage).
Die Lage ist gut gewählt: Das Kastell befindet sich auf einem hohen und steilen Abhang. Es ist 7 ha groß. Die Anlage hat einen Wall mit "Holzwandeinfassung" und einen Spitzgraben. Alle 30 m gab es einen Turm. Das Lager hatte zwei Tore (im Nordwesten und Nordosten). F. CRAMER glaubt, daß das Annabergkastell bis in die Zeit des Drusus zurückreicht. Da es fest gebaut war, ist anzunehmen, daß es für längere Zeit konzipiert war.
Die kleinen Befestigungen am Lippeufer dienten dem Schutz des Hafenverkehrs und der Vorratshäuser.
"Etwa 800 Meter westlich von dem Eingange in den Ort, an der Weseler Landstraße, ist im Gelände noch heute eine rechtwinklig eingeschnittene Einbuchtung deutlich bemerkbar: es ist die Stelle des römischen Hafens."
Die großen Mengen gefundener Getreidekörner (meist Weizen) deuten darauf hin, daß es dort einstmals einen großen Kornspeicher gegeben hat. Die Körner waren angekohlt, was auf einen Brand hindeutet. (Was damals genau geschehen ist, werden wir wohl nie erfahren.)
"Wir haben es in Haltern zweifellos mit einer Hauptniederlage für die Lebensmittelbedürfnisse der römischen Truppen in Niedergermanien zu tun."
Bei den Uferbefestigungen wurden mindestens vier "Wall-und Grabenbauzeiten" festgestellt. Auch ist es sehr wahrscheinlich, daß der Platz ein Brückenkopf war (Flußübergang; karoling. Uferbefestigungen; Holzpfähle aus dem alten Lippebett).
Als die Bedeutung des Hafenplatzes stieg, "entstand das eigentliche Legionslager (auch hier mehrere Bauphasen).
"Es liegt auf einer nach allen Seiten abfallenden Höhe, die 30 Meter über dem Flusse liegt und einen weiten Blick in die Ebene und das waldige Hügelland gewährt. Zunächst wurde das heute sogenannte 'Feldlager', 600 Meter im Quadrat (35 ha) umfassend, errichtet; es reichte für zwei Legionen." Es war kein Marschlager, wie man zunächst glaubte, sondern ein Standlager. Allerdings wurde es nur im Sommer benutzt, da "nach ausdrücklichem Zeugnis des Altertums, erst Tiberius im Winter des Jahres 4 auf 5 nach Chr. im Innern Germaniens ein Lager bezog." Durch einen Münzfund konnte nachgewiesen werden, daß es noch im Jahr 2 vor Chr. bestand. Die Anlage war von fester Bauart (Plaggenwall, Holzbauten im Innern).
"Auf dieses Feldlager folgte dann das Winterlager, im Osten etwa fünfzig Meter über das ältere Lager vorgeschoben (das sogenannte 'Große Lager'); es ist kleiner als dies ältere, und nur für eine Legion (mit ihren Hilfstruppen) berechnet (490:390, später nur 340 m). Dagegen ist es durch doppelten, sehr tiefen und breiten Spitzgraben geschützt, sowie durch festen Holzerdwall mit Zinnen (wovon eine Strecke heute als Modell erneuert dasteht). Außergewöhnlich ist die Lage der "porta praetoria" an der Längsseite nach Süden hin (sie befindet sich normalerweise an der Schmalseite). Das Nordtor ist zur Westseite hin verschoben "und nimmt die höchste Lagerstelle ein, von wo das Lager die Gegend völlig beherrscht."
Die Tore sind 8 m breit. Rechts und links von den Toren ist der Graben unterbrochen, der Wall verläuft 10, 5 m nach innen. Der Feind war in dieser Torgasse starkem Beschuß ausgesetzt.
"Zudem aber schloß ein schweres, turmartiges Balkengerüst nach hinten zu den Durchgang zwischen den Wallenden ab; der eigentliche Torweg unter dem Gerüst war durch einen Pfeiler geteilt und konnte durch zwei schwere Holzpforten versperrt werden."
Hinter dem Südtor gab es einen offenen Wasserbehälter. Ein alter Hohlweg führt heute noch dahin.
Das Praetorium wurde dreimal aufgebaut! Dahinter wurde die Wohnung des Legaten gefunden.
1. Phase: Mittelbau: Rechteck, 54:45 m; starke Holzwände, vorderer Teil: großer Hof, auf vier Seiten von Hallen umgeben; Rückwand des Rechtecks ("nach Süden sich öffnend"): wohl die Amtsräume des Legaten, Augang zur Lagerstraße "und durch eine Säulenhalle zur Legatenwohnung."
Phase 2: Verkleinerung des vorderen Hofes; dadurch wurde Platz frei für einen Hof im hinteren Teil.
Legatenwohnung: gedieltes Atrium, Impluvium, Zisterne; ringsherum Räume; z.T. unregelmäßiger Grundriß; "im wesentlichen erkennen wir die Grundform eines römischen Hauses."
Hinterer Lagerteil=retentura: Kasernen aufgedeckt (60 auf 15 m; 10 Zimmer); langgestreckte Form (vgl. Kasernen in Novaesium=Neuß; diese allerdings 1/3 größer).
"Die größte Fülle der Kleinfunde fand sich an der Via principalis, und dies ist nicht zu verwundern, da dort die Offizierswohnungen lagen: hier spiegelt sich die Behaglichkeit des Lagerlebens in der freilich kurzen friedlichen Zeit zwischen dem Jahre 4 n. Chr., da Tiberius das Land als unterworfen ansehen durfte, und dem Jahre 9, das die Varusschlacht und die Zerstörung des Lagers brachte. In diese Jahre fällt auch besonders die Entwicklung einer bürgerlichen Niederlassung, des sogenannten canabae."
Nach dieseer Zeit: nur vorübergehende Benutzung, "wahrscheinlich nur mehr zur Zeit des Germanikus (i. J. 16)."
Große Funde an Tongeschirr provinzialischer Art (Belgien, Rhein), aber auch ital. Sigillataware (Fabrik des Ateius/ Arezzo; fand sich meist in den Offiziersquartieren; wichtig für die "Erkenntnis der römischen Keramik in der kaiserlichen Frühzeit und zur Gewinnung fester zeitlicher Ansätze, da ja alles sich zusammendrängt in die kurze Spanne der zwanzig Jahre von der Zeit des Drusus bis auf Varus.")
Schließlich die Frage aller Fragen: "Haben wir in Haltern das langgesuchte Aliso vor uns?"---
Aliso wird nur zweimal genannt (Velleius, "der als höherer Offizier mit Tiberius bis zur Elbe kam, zum Jahre 9, als es nach der Varuskatastrophe der Zufluchtsort der Flüchtenden wurde"; "Tacitus zum Jahre 16, der berichtet, Germanicus habe von diesem Lager aus (damals wohl dem östlichsten an der Lipe) neue limites bis zum Rheine angelegt.")
"Ob man dagegen das von Drusus an der Mündung des Elison in die Lippe angelegte Kastell mit Aliso gleichsetzen darf, ist nicht ohne weiteres sicher, da zwar in beiden Namen gewiß derselbe Wortstamm (ein Flußname) steckt, aber im Lippegebiet gerade Bäche solchen Namens (z.B. die Else bei Elsen) sich oft wiederfinden."
An welchem Abschnitt der Lippe Aliso einst lag, ist unklar: "das meiste scheint freilich für die mittlere Strecke zu sprechen. Bis jetzt ist in Haltern wenigstens nichts gefunden worden, was gegen diese Gleichsetzung spräche."
Zwar waren die Anlagen bei Haltern die wichtigsten an der Lippe, dennoch sei dadurch  "die Streitfrage selbst keineswegs entschieden". Auch könnten die "Anhänger der Haltern-Aliso-Hypothese" sich nicht auf Funde stützen. Ebenso läßt uns die literarische Überlieferung im Unklaren. Wir efahren zwar ab und zu etwas von einem Lippekastell, aber der Name wird nicht genannt. Nach TACITUS entsetzte Germanicus im Jahr 16 ein solches Lippekastell ("castellum Lupiae adpositum"). Wenige Sätze weiter im Text wird Aliso genannt (Tacitus, ann. II, 7). Ob beide identisch sind, läßt sich dennoch leider nicht mit Sicherheit sagen.
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